Buch 1: "Vom Verlieren und Finden der Bilder"

Diese Bilder existieren in ihrer eigenen Zeit. Sie versuchen einen Zustand zu halten, der längst vergangen ist, der längst nicht mehr sichtbar ist. Ulrike Rutschmann verliert ihre Bilder und findet sie wieder oder erfindet sie neu und anders. Das, was sichtbar ist, erzählt vom Vorher, vom Nachher und vom Werden: Kunst inszeniert wie ein Naturereignis, wie der natürliche biologische Prozess des Entstehens und Vergehens, des Wachsens, Reifens und Welkens, des Keimens und Verwesens.
Was vom Malen übrigbleibt, zeigt sich in ganz unterschiedlichen Variationen, die zunächst nicht verraten, wie viele Öl-, Eitempera-, Kohle-  und Graphit-Schichten unter ihnen zum Trocknen kamen. In dieser  Malerei und diesen Zeichnungen werden die unteren Farbschichten immer wieder angelöst und vermischen sich mit der nächsten Farbschicht. Ulrike Rutschmann wäscht ab, verwischt, sucht, entdeckt und fixiert. Das Wegwischen ist wie „ein Befreien“ vom dichten Farbauftrag. Denn wenn die Farbe zu dicht aufgetragen ist, kann das Bild nicht mehr atmen. Wie Jahresringe in einem Baum steckt in Ulrike Rutschmanns Arbeiten eine Vergangenheit, die wir nur ahnen können. Die Künstlerin zeigt auch das, was nicht zu sehen ist.

Helga Scholl M.A., Aachen (2010)

 

Buch 2: "Staubvermalung und Schattenprojektion der Artemisia vulgaris"

Von Zeit zu Zeit nimmt sie eine neue Form in ihr künstlerisches Vokabular auf – zum Beispiel Artemisia vulgaris.  Der gemeine Beifuß, die geheimnisvolle Ingredienz magischer Rezepturen, galt im Mittelalter als sehr wirksames Mittel gegen und für Hexerei. An der Artemisia interessiert sie aber eher der strukturelle Aufbau, die elegante klare Form, als ihre geheimnisvolle Aura.
Im Zentrum der Bilder steht - al fresco - die aufgefächerte Pflanze. Bläuliche Silberpigmente, Champagnerkreide, Kohlestaub und Graphit setzen sich wie Blütenpollen an Wände, Papier und Folien. Nackt fahren karge Äste in den Raum aus. Um detaillierte Schattenstrukturen zu erzeugen, setzt die Künstlerin auch künstliche Lichtquellen ein.
Die Schatten changieren in einem matten Samtschwarz oder einem fahlen Schwarz aus verbrannter, zerstoßener Materie. Sie sind eingewebt in ein leichtes, transparentes Netzwerk, zart wie Insektenflügel.
Die unterschiedlichen physikalischen Reflexionseigenschaften der verwendeten Materialien erzeugen ein Wandbild, das stark auf wechselnde Lichtverhältnisse im Raum reagiert. Je nach Intensität der Sonneneinstrahlung lösen sich Stellen des Bildes auf oder treten hervor. Je nach Tageszeit zeigt sich die Farbigkeit des gesamten Raumbildes von fahlen Nebeltönen über Coelinblau bis hin zu schimmerndem Violett.
Die großrahmigen Wandzeichnungen sind sowohl als erinnernde Notate zu lesen, als auch als Stilübungen und Stillleben mit Vanitasklang. Sie haben oft das Format von Historiengemälden – nicht nur ihrer Größe nach. Sie fassen temporäre Erscheinungen und Atmosphären, die in ihrer Zeit bestehen, zusammen; sie erfassen (Um-)Welt. Ihre Aufzeichnungen sind zweifach deutbar: Als „romantische“ Zeichnung zeugen sie von der Zuneigung zu einer Naturform und als dokumentarisch-analytische Zeichnung vom Versuch, hinter das Geheimnis dieser Form - unter ihre Oberflächen - zu gelangen. Darüber hinaus bekommen sie ein subtiles Eigenleben. Es sind ästhetische Bildräume „parallel zur Natur“.

Helga Scholl M.A., Aachen (2010)

 

Buch 3: Raumflutung

Wie auch immer es entsteht, die Künstlerin lässt es gelten: Bilder, die sich nicht nur an und auf den Wänden breit machen, sondern auch frei in den Raum ragen wie Gewandstudien. Das ist, „Kunst, die sich selber denkt“; sie fordert Eigensinn; sie ist auf Rahmen nicht angewiesen, unbekümmert breitet sie sich auf Planen und Folien aus, lässt den Trägern ihre ursprüngliche Natur, überspringt Lücken und Löcher oder gewährt Flecken, Falten und Rissen ihre Eigenart. Sie findet ihre Träger irgendwo; sie lässt sich die Umstände gefallen; sie dialogisiert mit den vielfältig strukturierten Gründen und Lichtverhältnissen. Sie findet und verwertet. Sie gibt dem, was wir Zufall nennen, dem, was einfach passiert, seinen Platz. So entwickelt sich etwas Eigenes im weiten Raum des Möglichen und des Unwägbaren.
Neben den Folien sind es Licht, Luft und Leere, der innere und der äußere Raum, d.h. auch die „immateriellen“ Dinge, die die Künstlerin wählt. Blanke Scheiben, eisige Kristalle von weißem Pigment, lichtes Gewebe und quecksilberne Pfützen brechen Blickachsen, irritieren Raumverhältnisse und spiegeln den Himmel ins Bodenlose. Lichtreflexe lösen sich von spiegelnden Oberflächen, von Pfützen, Wasserlachen und Fenstern und verdichten sich zu neuen Geweben, die sich wieder als durchlässige Membrane auf Wände und den hell leuchtenden Himmel legen. Das ursprüngliche Spiel von Zufall und Eingriff  wird nun zu einem Spektakel von Licht und Überblendung - so lange bis sich das Bild im Bild zu spiegeln scheint. Von der Wiederholung über die Variation bis hin zur Metamorphose schafft Ulrike Rutschmann Werke in repetitiven Strukturen, die immer wieder auf ein nächstes und übernächstes Bild Einfluss nehmen. Es gibt bilderlose Bilder, die nur als Momentaufnahme existieren, deren mögliche Bilder man nicht sehen kann, weil sie von anderen, wiederum nicht sichtbaren Bildern überlagert werden. Ein hintergründiges Spiel mit dem Sehen, mit Trugbildern, mit Illusion und Vision  und dem Unsichtbaren hinter dem Sichtbaren.

Helga Scholl M.A., Aachen (2010)

 

Buch 4: Folien-Raumbilder

Paul Virilio sagte einmal: „Die Suche nach den Formen ist nur eine Suche nach der Zeit.“ In verklärt anmutenden Camera-obscura-Blicken hält Ulrike Rutschmann ihre Prozesse fest. Sie verwendet die Fotografie nicht als Gattung, sondern als ein Material neben anderen. Ihr fotografisches Archiv – auch als ‚Bücher‘ zusammenfasst - dient vor allem als Lager der Zustände, indem die Erfahrung von Chronologie, von Vergangenheit und Gegenwart entgleitet und die Empfindung einer Art zeitlichen ‚Dehnung‘ auszulösen vermag.
Belichtungszeit und Intensität des Lichts sind die maßgebenden Faktoren. Die Wirklichkeit ist nichts Gegebenes, sondern eine Folge flüchtiger Erscheinungen, die erst im Bewusstsein  zur Ansicht eines Gegenstandes oder zum Anblick eine Szene montiert werden.
Die fotografische Dokumentation versucht, mit dem einzelnen, „stillen“ Bild einen Damm gegen die fließende Zeit zu errichten, eine in der Fläche gespeicherte Zeit, die sich dem Vergehen zu entziehen scheint. In ihren Prozessen hebt sich die Unterscheidung von passiert und inszeniert auf. Mit dem unzeitgemäß langsamen ‚Verlieren und Finden der Bilder‘ setzt Ulrike Rutschmann dem medialen Bilderrauschen ein anders strukturiertes nahezu poetisches Instrumentarium entgegen.
So erkennbar Einzelheiten ins Bild gesetzt sind, so zieht sich die Gesamtheit der einzelnen Elemente, die Kulisse, hinter eine Grenze des Hypothetischen zurück. Wir blicken in einen anderen - nur möglichen - Raum. Diese Möglichkeitsräume, fotografisch festgehalten, beschreiben
einen Zustand in der Zeit, einen, der sich sonst nicht hält. Das Spiel zwischen Auflösen und Fokussieren ist ein Thema unendlicher Variationen.
Es ist ein Prozess, der nicht zu Ende gedacht werden kann. Zwar bleibt alles in der Zeit fließend, aber die Konzentration unseres Blicks gibt den Bildern eine gleichsam ‚unendliche‘ Gegenwart.

Helga Scholl M.A., Aachen (2010)

Buch 5: sentiment-sediment

Es scheint, als müsse erst jedes Material, jede Komponente, jede Oberfläche, jeder Ort einer eingehenden Betrachtung unterzogen werden, um ihm die Form zuzumessen, die die Künstlerin dann in Variationen immer wieder neu durchspielt. Deshalb schließt auch keine ihrer Werkgruppen endgültig ab. Sie bestehen gleichwertig und gleichgewichtig nebeneinander und folgern eine aus der anderen. Die meisten ihrer Projekte bestehen nur für begrenzte Zeit, weil sie fragil sind. Wie Bilder, die aus der Zeit gefallen sind. Das Flüchtige, das Ephemere ist ihre Eigenschaft. Sie ist es auch, die in ihrer temporären Erscheinung jede Inszenierung zu etwas unwiederholbar Einzigartigem macht, die ihren Zauber jeweils neu und anders an jedem neuen Ort entfalten kann.
In der Kulturkirche Isseroda/Weimar schichten sich die bemalten Folien wie transparente Häute über die Zuganker. Die Folienhäute sind im Jahr 2009 ungeschützt der Situation an diesem Ort ausgesetzt. Versehrungen durch Witterung und Vandalismus sind einkalkuliert.
Das Gesamtbild der Installation ist wiederum abhängig von den Lichtverhältnissen. Direktes Sonnenlicht lässt die dünnen, transparenten Häute in klarer Farbigkeit erscheinen und vermittelt Leichtigkeit des Materials. Bei trübem Winterwetter und natürlichem Licht hingegen erscheint die Installation beklemmend, die Folien wirken schwer, die Farbigkeit versinkt im Grau.
Die Narben und Flecken bleiben sichtbar und die silbrigen Säume und Nähte, die Falten und Versehrungen im transparenten Gewebe, erzählen von ihrer Geschichte.

Helga Scholl M.A., Aachen (2010)

 

Buch 6: Folienatmung / Folienkörper

Auf das erdfarbene Gewebe regnet Lichtstaub: Eine Falte lehnt sich an die andere und die Zeit steht still. Es regt sich ein Lufthauch. Das Licht und der Atem mischen sich unter die Falten oder halten sie zusammen. Die Schatten sind wie ausgelöscht. Reflexe  und Reflexionen spielen auf leichten und lichtdurchlässigen Folien, die ein Windhauch davontragen könnte.
Ein Körper aus sepiagetöntem Licht bäumt sich auf, bauscht seine Gewänder. Die mit Sonnenenergie aufgeladene Substanz erscheint als lebendige, scheinbar schwebende Form auf dem Boden. Das Wissen um ihr gefährdetes Dasein schafft eine besondere Andacht.
Das Feste und Fließende, das Geformte und Amorphe, scheinen ineinander überzugehen, und es entsteht ein diffiziler Balanceakt zwischen Beständigem und Flüchtigem; hier geht es um Gleichgewicht und Wandlung, um den Versuch, das Irrationale oder Unmögliche zu ergründen. Gegensätze, die Ulrike Rutschmann ebenso wohl kalkuliert wie unvereinbar miteinander wirken lässt, konstituieren ein Dazwischen, eine Spannung des Innen und Außen, einen atmosphärischen Schwebezustand.
Die Folie wird zur Haut, wölbt sich auf dem Untergrund nach vorne aus. Sie wirkt wuchtig, fest und zart zugleich, opak, voll Volumen und immer wie atmend. Und diese Bilder, die von Farben oder Formen als Materie erzählt haben, erzählen nun von sich als Körper, als Folienkörper.
Es ist das Spiel mit Innenraum und Außenwelt in unendlich denkbaren Variationen. Und immer bleibt alles scheinbar schwerelos in der Schwebe und doch bereit, jeden Augenblick aus der Zeit herauszufallen, würde es nicht durch das Licht selbst gehalten.
Nichts ist auf Dauer eingestellt.

Helga Scholl M.A., Aachen (2010)

 

Unter der Oberfläche der Bilder

Textauszug: Katalog atmen

…Mit der Metapher vom Atmen der Farbe, umschreibt Ulrike Rutschmann konkret deren Eigendynamik. Darüber hinaus lässt sich ihr Vergleich auch auf das Phänomen der Gewinnung von Raum im Rahmen der zweidimensionalen Fläche des Bildes anwenden. Die Malerin erschafft den Bildraum nicht durch konstruktive Komponenten, wie die Anwendung der Zentralperspektive, sondern durch ihren spezifischen Umgang mit der Farbe. Die Überlagerungen des Farbauftrages erzeugen den Eindruck unergründlicher Tiefe, einer Farbraumtiefe. Sie zielt nicht auf eine dreidimensionale Körper- oder Raumillusion, sondern bezeichnet eine immaterielle Tiefendimension, die rhythmisch zu erspüren und zu erleben ist für diejenigen, die sich auf das Atmen des Bildes einlassen….

….Die malerischen Variationen über ein Thema vereinen die analytische Beobachtung der Realität mit der Meditation über existentielle Fragen. Während des Malprozesses wird die Grenze zwischen dem Bereich des Materiellen und des Immateriellen überschritten. Ulrike Rutschmann empfindet diese Grenzüberschreitung als „Gratwanderung“. Der Malakt gestaltet sich für die Künstlerin als Balanceakt auf der Grenzlinie zwischen Außen- und Innenwelt.In der intensiven Anschauung lässt sich diese Gratwanderung nachvollziehen, im Erleben eines oszillierenden Moments, als ein Hin- und Herschwingen, ein Changieren des Blickes, bei dem Versuch der Durchdringung der komplexen Tiefenschichten des körperlosen Farbraumes. Das, was unter der „Malhaut“, der Oberfläche des Bildes liegt, will dem auf die Spur kommen, was den Menschen unter seiner Hautoberfläche ausmacht: das Nicht-Greifbare, das Unbewusste, das, was unsere Kultur als Seele benennt. Das menschliche Atmen, entspricht einem Austausch zwischen Innen- und Außenwelt, der die Körpergrenzen überwindet. Das Atmen der Bilder von Ulrike Rutschmann transzendiert die Bildgrenzen.

Dr. Birgit Schulte, Hagen (2002)